Wenn man den Menschen die Augen verbindet, beginnen sie im Kreis zu laufen.

Ich hab dich heute herum irren sehen. In den Straßen abends, als das Licht langsam weniger wurde. Es ist schon eine Weile her, dass du gegangen bist. Stück für Stück. Ich hab dich kaum wieder erkannt, so wenig war von dir übrig, das ich kannte. Deine blonden Haare, ja. Die weißen Turnschuhe auch. Aber sonst warst du nicht mehr mein du. Du bist auf dem Radweg gelaufen, hast eine Zigarette geraucht und die Asche über deinem Kopf fallen lassen. Ich habe aus dem Fenster geschaut, ganz oben im letzten Stock vor den Wolken und habe gewartet, bis du vorbeikommst. Ich hab dich erwartet. Seit Tagen hänge ich hier und schieße mit Stunden auf die Tauben in der Regenrinne gegenüber. Getroffen hab ich nie. Lange bevor du kamst waren deine Zweifel schon da. Der Wind hat mit ihnen mein Fensterglas zum Knistern gebracht. Feiner Sand mit spitzen Kanten. Der stete Sturm macht das Glas milchig. Als du dann kamst hattest du nur Augen für die Straße. Hast in den Rinnsteinen nach dir selbst gesucht. Hast geschwiegen, nichts zu mir nach oben gerufen. Ich hätte auch auf einen Pflasterstein warten können, so fest sahst du aus. Wobei, mit dem Stein hätte ich wenigstens noch ein Fenster einwerfen können. Mit dir konnte ich mir nur die Nächte um die Ohren schlagen. Immerhin. Für die Tage blieb dann noch das taube Gefühl. Ich frage mich, wo du hingehst, um die Zeit. Um die Zeit bin ich doch immer hier.

Monate bevor ich am Fenster auf dich gewartet habe, hast du mir gesagt, dass du dir nicht sicher bist. Da hab ich gedacht, dass man sich das doch nie ist. Ich kenne keinen, der sich sicher war. Jemals. Und wenn, dann war es gelogen. Sicher sind sich nur die, die das Leben nicht persönlich kennen. Du hast mal zu mir gesagt aus einem Weinglas heraus, dass ich dir einfach nur passiert wäre. Dass das alles gar nicht vorgesehen war. Als wäre das irgendwas, das der, der nicht vorgesehen war, verstehen könnte. Ich wusste erst nicht, ob das etwas Gutes war. Manchmal findet man ja auch zufällig Geld in der Jackentasche oder einen frischen Joghurt im Kühlschrank. Jetzt weiß ich es allerdings, jetzt seh ich dich da unten. Es war gut für dich, dass du das sagen konntest. Denn es hat dir die Schuld genommen, die Schuld am Zweifel, daran, dass du weggehen musstest. Wir sagen ja gern, dass uns etwas passiert ist, wenn wir nicht wollen, dass es für andere wie Absicht aussieht. Aus Versehen zusammen gelebt. Was für eine Vorstellung. Eines Morgens musst du aufgewacht sein und hast neben dich in die Laken geschaut, und dort hat sich ein fremdes Leben in den Morgen gewunden. Was für ein Moment das sein muss, wenn man merkt, dass man falsch abgebogen ist, tief in die Welt eines anderen. Ich muss wohl Irrlichter in den Augen haben. Oder jemand hat auf mein Klingelschild Ausweg geschrieben. Herr Ausweg. Ich war mir ja auch nie sicher. Der Unterschied zwischen uns beiden war nur, dass es mir egal war. Mehr noch, es hat mir gereicht, dass du es warst. Dass überhaupt ein Mensch so lang an einem Platz bleiben will, ist doch ein Wunder. Wo es doch so viele Plätze auf der Welt gibt, die schöner sind, als in den Scherben neben mir. Nein. Sicherheit hab ich nie gebraucht. Mir hat gereicht, dass du fast jeden Abend wieder gekommen bist. Nur auf die Nacht ist mehr Verlass. Aber was dem einen genug ist, ist dem anderen gerade mal sein Anfang.

Wo willst du hin, mein Leben? Ich dachte zumindest, dass du das wärst. Du bist ein Stück mit mir gegangen. Und jetzt, da du deinen Kopf wieder drehen kannst, weil du nicht mehr so lang in meine Augen schaust, da entdeckst du die anderen Wege. Die ohne Staub, die ohne Steinschlag, die ohne großes Gefälle. Die asphaltierten, die gepflegten, die mit den Horizonten, hinter denen du nichts kennst. Es sind Auswege. Raus aus den Dingen, die sicher scheinen und die auf dich warten. Raus aus der einen Bestimmtheit, rein in eine andere. Manchmal in der Stadt, wenn es frisch geschneit hat, geh ich gern neben dem Weg. Weil man dort meine Spuren sieht. Ich denke dann immer, dass ich der erste bin. Das ist ein schönes Gefühl, weil es so selten vorkommt in unseren Gewohnheiten. Vielleicht ist es das, das dich wegzieht. Vielleicht brauchst du das Gefühl, dass dein Weg neu ist. Und ich. Gehe meinen Weg, den ich gehen muss und schaue dir dabei zu, wie du kleiner wirst. Wie dein Gesicht verschwimmt, so sehr, dass ich mir schon bald nicht sicher bin, ob es wirklich noch deines ist. Manchmal läufst du weit zurück und schaust nach mir, ob ich noch da stehe. Und warte. Aber warten ist etwas für die, die sich sicher sind. Ich bin mir nicht sicher. Ich bleibe lieber in Bewegung und hoffe darauf, dass die Dinge sich auf dem Weg finden werden. Nach und nach. Kieselsteintaktik. Auf deinem Asphalt kannst du deine Schritte kaum hören. Aber du bist schneller. Das ist es wohl, was dir wichtig ist. Ankommen. Ich dagegen werde niemals mit Ziellinien mein Leben nachziehen.

Ich kenne das mit dem Herumlaufen. Die anderen um mich tun das. Ich tue das. Die eine sagt ihre Hochzeit ab und dann wieder an, mit ihrem schönen schmalen Fuß in der Eisentür, die raus auf die Straße führt. Der andere liegt die Nächte wach und sucht nach dem Spalt im Vorhang, durch den er ins Licht fliegen kann, während neben ihm ein schmaler Falter im Schlaf mit den Flügeln zittert. Ein anderer geht über Jahre hinweg zur Nachbarin und sucht dort im Meer der Auswege sein Zuhause. Während in der Heimat die Gipfel glühen vor Einsamkeit. Die nächste schreibt nachts Nachrichten an den, der ihr sagt, dass sie schön ist, weil dem anderen der Blick trüb geworden ist von der Heulerei. Wieder eine andere geht raus in die Welt, weil das was Zuhause ist sich vor lauter Fremdheit nicht mehr so anfühlt. Und sitzt dann irgend wo am Gletscher und zählt nachts die fremden Sterne so lang, bis sie sie alle beim Namen kennt. Und einer, den ich mal kannte, der lief nur in sich selbst herum, während er von außen so aussah, als würde er sich nie wieder aus seinem Schatten heraus bewegen. Der wurde dann verlassen von einer, die den Stillstand für den Teufel hielt. Wir alle sind in Bewegung. Ich dachte nur immer, wir beide wären nicht wie die anderen.

Du gehst da unter meinem Fenster vorbei. Vielleicht gehst du zu jemandem anderen. Vielleicht nach Hause. Oder beides, das wäre noch schlimmer. Du weißt nicht, dass ich dich sehe. Du denkst ich warte hinter dir auf dich und frage mich, wo du bleibst. Dabei hab ich längst gesehen, dass du unterwegs bist. Habe längst gemerkt, dass du gern fortgehst. Während du da unten deinen Weg suchst, versuche ich hier oben das alles nicht persönlich zu nehmen. Versuche nicht zu schrumpfen unter der Last deines Nichtdaseins. Nicht Wollens. Ich bin auch schon fortgegangen von anderen. Über die Schulter gesehen, ist das Leben eine schöne halbrunde Sache. Von hier oben sieht es dagegen wie ein Dreieck aus, dessen Punkte nicht verbunden sind. Deine blonden Haare duften bis hinauf an meine Dachschrägen und ich weiß nicht, ob sie noch ein einziges Mal an meinen Lippen kleben werden. Als ich das gerade zu Ende gedacht habe, bleibst du stehen. Bindest deinen rechten Schuh. Und ich überlege, ob ich springe. Aus dem fünften Stock direkt in deine Jacke. Überlege, wie ich die Arme halten müsste, um den Gleitflug zu dir zu schaffen. Aber dann gehst du einfach weiter, als wäre der Radweg unter dir ein Laufband, das außer deiner Kontrolle ist. Dabei war das einzige, was gerade außer Kontrolle war, mein dummes Hoffen darauf, dass dein Weg hinter dem Haus eine starke Rechtskurve macht. Direkt zurück in meine Küche, in der ich noch zwei Zigaretten in meiner Schachtel habe.

Wo willst du hin? Was gibt es vor dir auf deinem neuen Weg, das dir hinter dir fehlt? Kann man auf so einer runden Kugel wie der unseren ein Ziel wirklich austauschen, oder muss man dazu erst von der Erde fallen? Woher weißt du nicht, dass irgendwo dahinten sowieso alles auf dasselbe hinausläuft? Wenn man den Menschen die Augen verbindet, beginnen sie im Kreis zu laufen. Alles was ich tun kann, ist hier oben am Fenster zu bleiben und zu hoffen, dass mein Feuerzeug weit genug leuchtet. Dass mir einer Kippen bringt. Und dass dein Mehrweg in einer Sackgasse endet. Solang werde ich langsam weitergehen und meinen Schritten zuhören. Die Augen am Horizont, das Herz über meiner Schulter.